»The adidas Archive. The Footwear Collection«
Text: Ernie Beckmann
In den letzten 10 Jahren sind diverse Bücher über Turnschuhe auf den Markt gekommen, die auf verschiedenste Art und Weise das immer beliebter werdende Thema Sneaker beleuchten. In »Quote’s Archive« kann man zum Beispiel die illustrierte Sammlung eines der bekanntesten Vintage adidas Connaisseure der Welt bewundern, in den U-Dox Büchern geht es um ausgesuchte limitierte Schuhe aller Sneaker Brands, genau wie in der Bibel »The Ultimate Sneaker Book« des australischen SneakerFreaker Magazines. Und das »SNEAKERS« Buch lässt verschiedene Big Player des Businesses zu Wort kommen. Bei all diesen Büchern ist die Herangehensweise an das Thema Turnschuhe ähnlich, denn sie alle richten sich an die stetig größer werdende Zahl von Sneaker-Sammlern, da diese den Großteil der Käufer solcher Bücher ausmachen. Doch das hier vorliegende Werk »The adidas Archive – The Footwear Collection« aus dem Hause TASCHEN ist anders, denn es spricht eher nicht den typischen Sammler an, sondern Menschen, die ein Interesse an den Dingen haben, die adidas in ihrem sagenumwobenen Archiv im adidas Headquarter in Herzogenaurach aufbewahrt. Natürlich geht es hier vornehmlich um Turnschuhe, worum denn sonst? Doch nicht zwangsläufig um die Art Sneaker, welche die Sammlerherzen höher schlagen lassen, sondern um die Turnschuhe, die die Historie der Marke adidas ausmachen.
Die beiden Autoren Sebastian Jäger und Christian Habermeier betreiben im gut 40km von Herzogenaurach entfernten Scheinfeld die Agentur Studio Waldeck, die seit vielen Jahren mit der Marke adidas zusammenarbeitet. Unter anderem fotografieren die beiden Unternehmer zu Zwecken der Digitalisierung den gesamten Bestand des Archivs. Quasi aus der Gelegenheit heraus entstand wohl die Idee, das Archiv kuratiert der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei legt man Wert darauf, die gesamte Bandbreite an Turnschuhen zu zeigen und eben nicht nur die für die Turnschuh-Sammler interessanten Modelle. Das Buch besteht insgesamt aus 21 Kapiteln, von denen sich 15 ausschließlich mit den Schönheiten des Archivs befassen. Nach dem Vorwort des wohl bekanntesten adidas Designers Jaques Chassaing wird im 2. Kapitel die Firmenhistorie von Marcus Wessel, einem bekannten Sneaker-Blogger (Sneaker-Zimmer.de) und –Redakteur noch einmal aufgearbeitet. Von den Anfängen der Gebrüder Dassler Schuhproduktion in der berühmten Waschküche der Mutter Dassler 1924, über die Kriegsjahre mit der zwangsweisen Umstellung auf Rüstungsproduktion und dem Zerwürfnis der Brüder Adolf und Rudolf Dassler nach dem Krieg, sowie der daraus resultierenden Gründung der Konkurrenzunternehmen adidas und PUMA in Herzogenaurach wird alles beleuchtet.
Auch der Tod des Unternehmensgründers Adi und dessen Sohn Horst in den 1970er, bzw 1980er Jahren, die sportlichen Sternstunden der Firmenhistorie wie das Fußball WM-Finale 1954 in Bern, die Entwicklungen der meistverkauften adidas Sportschuhe Stan Smith und Superstar, der kulturelle Einfluss der Marke auf die Hip Hop Crew Run DMC mit ihrem Hit »My adidas« und die aufkommende Krise in den 1980er/90er Jahren mit dem folgenden Börsengang und dem Strategiewechsel durch die Übernehme der Marke Reebok 2005 werden in diesem Teil des Buches nicht ausgelassen. Mit anderen Worten, in knappen Abhandlungen bekommt man hier einen durchaus breiten Überblick über das, was in den letzten fast 100 Jahren in Herzogenaurach von statten gegangen ist.
In den weiteren textlastigen Kapiteln beschreiben Sebastian Jäger und Christian Habermeier die fotografische Arbeit am Objekt Turnschuh, sowie die Verantwortung, die mit der Aufgabe das Archiv bildlich festzuhalten und etwas Repräsentatives für adidas zu erschaffen, einhergeht. Die Gründerin des adidas History Managements, Barbara Hölschen, spricht in Kapitel 5 über die Anfänge des 2007 neu entstandenen History Managements und den Umzug der alten adidas Sammlung von Scheinfeld nach Herzogenaurach, wo unter ihrer Führung das neue Archiv in physischer, aber auch in digitaler Form in Zusammenarbeit mit eben jenem bereits erwähnten Studio Waldeck entstanden ist. Mit Martin Herde, der bis 2018 fünf Jahre lang als Archivar (Footwear Collection Manager) an der Entstehung der heutigen Form des Archivs mitgearbeitet hat, kommt ein weiterer ehemaliger Mitarbeiter von adidas zu Wort. In seinem Kapitel geht er noch einmal auf die Bedeutung der weltweit vielleicht größten Sammlung an Devotionalien eines Sportartikelherstellers ein. Er nennt seine Objekte »prominente Artefakte«, »museumswürdige Unikate« oder »Teile der Sportgeschichte«, die »mit all ihren Schrammen und Flecken, dem Gras zwischen den Stollen, dem Sand im Profil« von »großen Siegen und bitteren Niederlagen« zeugen und somit »Beleg für den Kern der Marke adidas« sind. Man erkennt, mit welchem Enthusiasmus die Mitarbeiter des History Managements ihren Job angehen, aber auch welcher Art die Objekte im Archiv und im Buch sind.
Die darauffolgenden 15 Kapitel drehen sich ganz und gar um das »Kultobjekt« Turnschuh. Das Einstiegskapitel beginnt mit Schuhen aus der Gebrüder Dassler Schuhproduktion und reicht bis zu den Anfängen von adidas Ende der 40er Jahre. Die nächsten Kapitel zeigen ausgewählte Trainings- und Wettkampfschuhe aus sieben Jahrzehnten adidas. Zu sehen gibt es hauptsächlich Turnschuhe, die Geschichte geschrieben haben, sei es, weil sie durch technische Innovationen sogenannte Gamechanger waren, weil ein prominenter Athlet oder eine prominente Athletin sie bei einem sportlichen Erfolg an den Füßen hatte, oder weil sie auf gewisse Art eine Kuriosität darstellten.
Man erfährt zu jedem Schuh das Wichtigste. Die Informationstexte zu den abgebildeten Schuhen sind recht kurz gehalten, denn sogenanntes Nerd-Wissen, das bei einigen Sammlern über bestimmte Schuhe sicherlich vorhanden wäre, wird hier nicht geliefert und wäre in diesem Buch auch schlichtweg überflüssig. In den letzten sieben Kapiteln werden Klassiker beleuchtet, die keinen Platz im Kapitel ihres Jahrzehnts gefunden haben. Es wird auch auf den Einfluss bestimmter Modelle auf Musik und Kultur eingegangen, es werden streng limitierte Modelle, Raritäten, Testversionen und Konzeptschuhe vorgestellt und es werden Ergebnisse aus den Kollaborationen des Herzogenauracher Sportartikelherstellers mit High Fashion Modeschöpfern wie Stella McCartney, Jeremy Scott oder Yohji Yamamoto gezeigt, durch die der Einfluss der Fashion Branche auf das Design von adidas Artikeln deutlich wird.
Auf den 644 Seiten des über 5 Kilogramm schweren Buches befinden sich zu viele Schuhe, um an dieser Stelle auf einzelne Modelle einzugehen. Natürlich wird jeder adidas-Liebhaber ein paar der persönlichen Favoriten vermissen, denn es ist schier nicht möglich, allen gerecht zu werden. Und so bleibt folgendes Fazit: die enge Zusammenarbeit zwischen den Autoren Jäger/ Habermeier und dem adidas History Management hat sich gelohnt, denn sie öffnet uns normalen Leuten durch dieses wunderbare Buch die heiligen Hallen des adidas Archivs. Die Wertigkeit des Buches, die schon durch seine Verpackung und das mit unterschiedlichen Materialien gestaltete Cover, sowie durch die fantastische Fotografie des Studio Waldecks deutlich wird, rechtfertigt den stolzen Preis von 100 Euro auf jeder Seite. Es wird ein großartiger Querschnitt durch fast 100 Jahre Dasslersche Sportschuhgeschichte gezeigt, der nicht nur adidas-Liebhaber in Verzückung versetzt, sondern auch Menschen mit einem Interesse für Sportkultur, für Unternehmensgeschichte, für Sporthistorie und für schönes Design ein breites Lächeln ins Gesicht zaubert.
Hier findest du das Buch im HHV Webshop:
https://www.hhv.de/shop/de/artikel/the-adidas-archive-the-footwear-collection